Sonntag, 18. Dezember 2016

Der Engel mit dem krummen Flügel


Und es begab sich zu der Zeit…


In der obersten Schicht der Wolken herrschte freudige Nervosität. Bald sollte es soweit sein. Die Schäfchenwolken würden die neuen Engelchen ins Leben entlassen, etwas, dass nur alle 263 Jahre geschieht, wenn ein Heiliger Abend auf einen Sonntag fällt UND auch noch Vollmond ist.

Schon seit einiger Zeit rollten und schubsten und kullerten die Wölkchen umher, ständig musste man Acht geben dass sie es nicht zu wild trieben. Schließlich sollte ja keines zu Schaden kommen. Nicht auszudenken, wenn nicht alle Letztgeborenen (mit jedem Schlüpfen gab es 263 neue Engel) nach dem Erscheinen der nächsten Generation endlich mit auf die Erde dürften, um den Menschen bei den Weihnachtsvorbereitungen zusehen zu dürfen! Dafür hatten sie immerhin in den letzten 262 Jahren alles gelernt was ein Engel wissen muss und das gesamte letzte Jahr auf ihr ganz spezielles Wölkchen aufgepasst, ihm vorgesungen, seine Wolkenhaut gestreichelt, mit sanfter Stimme zu ihm gesprochen und jede auch noch so kleine Fluse entfernt, die sich darauf niederlassen wollte.

Die Dämmerung brach herein. Und nun endlich, nach all der Zeit, konnte man erkennen, dass die Wölkchen von innen zu leuchten schienen, ein feines weißes Schimmern, in dem hier und da ein Flimmern in allen Farben zu sehen war.

Und während man tief unten die Glocken vom Weihnachtsmannschlitten eilig von hier nach da klimpern hörte, öffnete sich mit dem zarten Klang eines Silberglöckchens die erste Wolke, aus dem Licht stapfte langsam ein niedliches Wesen mit Pausbäckchen in einem schneeweißen Hemdchen,
schüttelte sich kurz, schaute verblüfft nach hinten über seine Schulter und entdeckte seine gerade entfalteten, perfekt symmetrischen Flügelchen. Und während überall kleine Silberglöckchen erschallten, flatterte es kurz mit seinen Flügeln und flog mit einem breiten Lächeln genau in die Arme seines höchsteigenen Wächters.
Was für eine Freude allüberall.
Glückliches Lachen und Kichern an allen Ecken – doch halt…

etwas abseits von allen kniete ein einzelner Wächter namens Librarius auf dem Boden, das Gesicht voller Bedauern, die Hände ausgestreckt nach einem kleinen Wesen, das verzweifelt versuchte, seine Flügel auszuklappen und wie alle anderen in die Arme seines Wächters zu flattern. Doch so sehr es sich auch anstrengte, es wollte nicht gelingen. Als es das traurige Gesicht seines Wächters sah, lächelte es scheu, stapfte auf seinen kleinen dicken Beinchen durch den Wolkenboden auf ihn zu und reckte die Ärmchen in die Höhe. Mit einem Schluchzer hob der Wächter es auf und versteckte sein Gesicht in den Engelslöckchen. Das kleine Ding zappelte und drehte sich solange hin und her, bis es endlich in des Wächters Gesicht schauen konnte, lächelte und sagte zaghaft:
 „Hallo, mein Name ist Fantasia. Ein wenig spät, aber ich bin da….“

Schnell machte die Nachricht von dem Engelchen, das nicht fliegen konnte, die Runde. Man tuschelte in kleinen Gruppen miteinander, hier und da hörte man Satzfetzen wie „ nicht richtig aufgepasst““, „das gab es noch nie, einen Engel der nicht fliegen kann“ und „nun darf er nicht mit hinunter, der arme Kerl“.

Nach einiger Zeit betrat der Erzengel Gabriel die Ebene. Er lächelte fröhlich in die Runde, schritt von Engelchen zu Engelchen, streichelte Lockenköpfchen hier, kniff in Pausbäckchen da, nannte jedes bei seinem Namen und klopfte den Wächtern auf die Schultern.

Ganz zum Schluss erreichte er die beiden Pechvögel. Librarius hielt seinen kleinen Schützling ein wenig trotzig auf dem Arm, als hätte er Bedenken, Gabriel könne ärgerlich werden, weil sein Engelchen nicht fliegen konnte. Die Kleine schien seine Bedenken nicht im Geringsten zu teilen, sie strahlte den alten Erzengel an. Der konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, bevor er, wenigstens ein bisschen streng, sagte: „Willkommen Fantasia. Mir ist zu Ohren gekommen, du kannst nicht fliegen?“ – „Ja, das ist wohl wahr.“
„Weißt Du, warum das so ist?“ – „Nein, das weiß ich leider nicht. Magst Du einmal nachschauen?“ – „Ja, das mag ich wohl“ sagte Gabriel und nahm die Kleine auf seinen Arm, drehte und wendete sie, zog sanft an ihren Flügeln, runzelte kurz die Stirn und gab sie zurück an Librarius.

„Nun“, sprach er, „es ist mir ein Rätsel, aber einer Deiner Flügel ist krumm. Daher tragen sie dich nicht. Das ist jetzt kein Problem, es wird nur schwierig werden, wenn Du einmal selbst auf die Erde darfst. Aber bis dahin haben wir ja eine Weile Zeit. Gräme Dich nicht. Manchmal passieren Dinge, die müssen wir nicht erklären können. Aber am Ende wird alles gut!“
Er klopfte dem sichtlich verblüfften Librarius auf die Schulter. „Gute Arbeit, mein Lieber! Sie ist ein entzückendes Wesen. Und sie ist was ganz Besonderes. Nun an die Arbeit: entdecke Euer Talent!“ Damit verschwand er auf die nächst tiefer gelegene Ebene.

Es war nämlich so:  jedes neue Engelchen konnte irgendetwas besonders gut. Und das war die Aufgabe, die seinem Wächter fortan aufgetragen war: unten auf der Erde einigen neugeborenen Menschenkindern  genau diese Fähigkeit in die Wiege zu legen. Und so erhob sich bald ein lautes fröhliches Plappern, wenn die Wächter aufbrachen, die Talente in die Welt zu tragen, die ihre Schützlinge ihnen gerade gezeigt hatten. Als erster brach ein junges Engelmädchen namens Sirena auf, deren Engelchen ihr gerade mit glockenheller Stimme etwas vorgesungen hatte. Der nächste war Picassius, dessen Pausbäckchen sofort begonnen hatte, mit seinen Fingerchen die schönsten Motive in den Wolkenboden zu malen… und so ging es in einem fort. Eines brachte seinen Engel die ganze Zeit zum Lachen, das nächste formte mit seinen Händen aus den Locken seiner Wächterin die schönsten Frisuren, es gab Heiler, Waldwächter, Holzschnitzer, Perlenfädler, Glasmacher und und und…. Und ein Wächter nach dem anderen verschwand auf seine Reise, den Menschen Talente zu geben.

Nach einiger Zeit saßen Librarius und Fantasia allein auf einer Wolke und schauten sich still an.
„Und? Was möchtest Du, das ich den Menschen bringe?“ fragte der Wächter leise.
„Es tut mir leid, ich weiß es nicht. Mein Kopf ist ganz leer.“

„Nun, dann habe ich wohl keine Aufgabe auf der Erde“ sagte Librarius traurig.

„Das kann nicht sein“ sagte in diesem Moment Gabriel, und die beiden zuckten ein wenig zusammen, weil sie den Erzengel nicht hatten kommen hören.  Er schaute Fantasia tief in die Augen, runzelte wieder kurz die Stirn und meinte: „In der Tat, ihr Kopf ist ganz leer und rein. Aber so lange ich hier die Geschäfte leite, hat es gottlob noch keinen Wächter gegeben, der nicht auf die Erde gedurft hätte, bis auf einen…  aber Du hast Deinen Schützling ja nicht verloren, weil Du schlecht Acht gegeben hättest. Also geh nun, schau Dir alles an, merk dir alles was Du siehst, und erzähle es ihr, wenn Du zurückkommst. Vielleicht bekommen wir ja so etwas in ihren hübschen Kopf hinein.“

Und weg war er.

Librarius grinste kurz, setzte dann ein wichtiges Gesicht auf und mit den Worten „warte hier auf mich, flieg nicht fort bis ich wieder da bin“ verschwand auch er.

Die anderen kleinen Engel wuselten fröhlich durcheinander, flatterten hierhin, balgten sich im Spaß auf dem Wolkenboden und waren sehr beschäftigt, bis die ersten Wächter zurückkehrten. Fantasia saß lieber auf ihrer kleinen Wolke, baumelte fröhlich mit den Beinen und lächelte jeden freundlich an, der sich in ihre Nähe traute.
Leider waren das nicht allzu viele…

Mit einem lauten Plopp erschien als erste Sirena wieder vor ihrem Schützling, umarmte sie kurz und begann sofort zu erzählen, wie sie den kleinen Babies mit einer zarten Berührung ihrer Stimmbänder die süßesten Stimmen geschenkt hatte.
Einer nach dem Anderen erschienen alle Wächter und berichteten von den Talenten, wie sie die Kinder ausgewählt hatten und wie viele sie bedacht hatten.

Als letzter erschien auch Librarius wieder. Er sah ein wenig… zerzaust aus, der Saum seines weißen Hemdes war ein wenig schmutzig, an einer Stelle war ein kleiner Riss, ein Ärmel war ganz nass und in seinen Haaren hatten sich Blätter und Blüten und sogar ein kleiner Krebs verfangen. Sofort setzte er sich neben Fantasia und erzählte ihr in jedem kleinen Detail, was er gesehen, gehört und gerochen hatte, beschrieb ihr die Berge, das Gefühl von Wind in seinen Haaren, das Gezwitscher und die Farben der Vögel, den Plätzchenduft aus den weihnachtlich geschmückten Häusern und den von blühenden Rosen, das Rauschen des Meeres und das Funkeln der Sterne, das Geräusch wenn Leute aus vollem Herzen lachen und die Freude in den Augen von zwei Menschen die sich wirklich gern haben. Er redete und redete, und ab und an lachte Fantasia auf und klatschte vor Freude in ihre kleinen Hände.

Als er nach einiger Zeit erschöpft vom Erzählen fragend in ihr Gesichtchen sah und fragte, ob sie nun wisse was er den Menschen bringen solle, schüttelte sie langsam ihren Kopf.
Gerade als er verzweifelt von dannen gehen wollte, erhob sie ihr Stimmchen und sagte: „Aber“
und als er sie wieder ansah, „ich kann das alles sehen. Und hören. Und riechen. Alles! Also natürlich nicht wirklich, aber in meinem Kopf. Alles was du erzählt hast. Ich kann mir das….vorstellen. Und beschreiben. Und neues erdenken, das noch schöner und noch bunter ist. Mein Kopf ist ganz voll. Aber was machen wir jetzt damit??“

Bevor er auch nur mit den Schultern zucken konnte, stand Gabriel plötzlich wieder neben ihnen.
„Das ist genau was die Menschen brauchen! Vorstellungskraft! Damit können sie nicht nur das tun, was ihnen in die Wiege gelegt wurde, sondern sich auch Neues vorstellen, das dann noch schöner wird! Und wir nennen es…. Fantasie!! Bring es so vielen Menschen wie möglich, Librarius, und verstreu es in allen Ecken der Erde! Aber bevor du losziehst, lass uns etwas versuchen bitte!“

Er legte Fantasia die Hand unters Kinn und sah ihr in die Augen. „Was wünschst Du Dir von allen Dingen am meisten, Kleines?“. Sie schaute ihn an und flüsterte „das weißt Du doch!“

Gabriel legte dem Wächter die Hand auf die Schulter und sagte: „Junge, erklär ihr ganz genau wie das ist wenn Du fliegst!“ und verschwand.

Und Librarius fing an zu erzählen, wie er jede Feder einzeln spüren konnte, wie die Muskeln die Schwingen bewegen, wie es sich anfühlt, wenn die Luft einen trägt, er redete und redete und plötzlich begannen die Flügelchen, zu zittern und zu beben, dann zu wedeln, und irgendwann endlich hob sich Fantasia von der kleinen Wolke ab, ungelenk, auch plumpste sie immer wieder mal zurück aber sie konnte definitiv für kurze Zeit fliegen. Und rund um sie herum fingen erst einzelne, dann alle Engel begeistert an zu klatschen,  und freuten sich, was die Kraft sich etwas vorstellen zu können, was man noch nie gemacht hat, alles bewirken kann.

Eines Tages, als die beiden wieder einmal auf ihrer Wolke saßen und Fantasia wissbegierig alles aufsaugte, was Librarius ihr zu erzählen hatte, unterbrach sie ihn plötzlich lächelnd und sagte: „Du, ich habe mich neulich gefragt, was wohl Dein Wächter damals den Menschen bringen durfte“.
Und bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, redete sie weiter: „wart! Ich habs mir vorgestellt. Und ich bin sicher: er hat ihnen die Fähigkeit gebracht, Geschichten zu erzählen.“
Librarius konnte nicht anders, er legte ihr nur zustimmend eine Fingerspitze auf die Stupsnase.

(c)2016 by Bea Klußmann.
Diese Geschichte darf zum privaten Lesen ausgedruckt werden, aber nicht - auch
nicht in Auszügen - kopiert und in Print- oder sonstigen Medien weiterverwendet
werden, ohne vorher mit mir darüber zu reden. Danke!










3 Kommentare:

Alesig hat gesagt…

einfach nur schön!!!! Danke liebe Bea......

Doro hat gesagt…

Wunderschöne Geschichte! Ich bin ganz gerührt! Wenn meine Enkel schon größer wären, würde ich sie ihnen vorlesen! Vielleicht in ein paar Jahren!
Liebe Grüße und schöne Feiertage!
Doro

DBears hat gesagt…

Wow ich bin platt, so schön. Ich wußte gar nicht das du auch so eine Ader hast, bin begeistert und gerührt. Eine wundervolle und nachdenkliche Geschichte. Sehr passend jetzt zu dieser Jahreszeit, einfach nur toll. Danke dir dafür, mit feuchten Augen dein -- Dirk -